Wer von 8 Uhr bis 16 Uhr nicht Zuhause ist, geht in der Regel seiner Arbeit nach. Das gilt im Grunde auch für jene Menschen, deren Ziel die Königstraße 6 in Hannover ist. Denn auch sie arbeiten in dieser Zeit hart – an sich selbst. Ein Besuch in der Tagesklinik.
Hannover – Wer es bis zu Renate Mühl geschafft hat, hat ein gutes Stück Weg bereits hinter sich. In jeder Hinsicht. Mühl leitet als Krankenschwester die drei Stationen in der Tagesklinik an der Königstraße.
Ihr Büro befindet sich im vierten Stock eines ehrwürdig alten Hauses. Einen Fahrstuhl gibt es nicht. Dafür eine wunderschöne Wendeltreppe.
„Das ist gut, denn damit kommen unsere Patienten in Bewegung“, sagt Mühl. Wer sie aber über die Treppe erreichen kann, hat zuvor von ihr am Telefon einen Aufnahmetermin erhalten. Und das allein ist für manchen schon ein wirklich großer Schritt zurück ins Leben.
Die Tagesklinik residiert in dem Backsteinhaus bereits seit 40 Jahren und ist damit die älteste ihrer Art in Hannover. „Die Tagesklinik ist eine wichtige Erweiterung unserer Therapiemöglichkeiten“, sagt Dr. Stefan Bartusch, Chefarzt der zuständigen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Langenhagen.
Sofern der Patient den Anforderungen des Tagesablaufs gerecht werden kann, „ermöglicht diese teilstationäre Behandlung den Verbleib in seinem sozialen Umfeld“, sagt Dr. Bartusch. Egal, wo jemand wohnt oder über wen die Verordnung einer Therapie ausgestellt worden ist.
„Da geht es unter Umständen auch darum, die Kinder weiter zu Hause betreuen zu können“, berichtet Renate Mühl. „Oder dass die Nachbarn nichts mitbekommen.“ Wer morgens aus dem Haus geht und am Nachmittag wieder kommt, muss keine Fragen beantworten.
Offenes Ohr für Befinden der Angehörigen
Denn diese stellen sich den Betroffenen schon genug: In dieser Tagesklinik sind drei Stationen untergebracht; bis zu 47 Patienten können zeitgleich behandelt werden. Angeboten werden Gesprächsgruppen oder Einzelgespräche zu jeweils unterschiedlichen Ansätzen sowie körperorientierte Gruppen zur Entspannung oder gemeinsamem Sporttreiben.
Zwei Stationen widmen sich Patienten mit allgemeinen psychischen Erkrankungen. „Die dritte Station ist spezialisiert auf Betroffene, die überdies gegen eine Sucht ankämpfen müssen“, erläutert Mühl. Bei Bedarf und auf Wunsch der Betroffenen steht die Tagesklinik einmal im Monat den Angehörigen offen. „Dabei geht es ausdrücklich auch um das Befinden der Angehörigen“, erläutert Mühl.
Ein Platz in einer Tagesklinik bedeutet verbindliches Erscheinen an jedem Wochentag jeweils von 8 bis 16 Uhr. „Das ist für manchen wirklich harte Arbeit“, betont Mühl. Erfüllt sein sollten Minimalanforderungen wie regelmäßiges und pünktliches Erscheinen, ausreichende Abstinenz von Suchtstoffen und die Motivation zu therapeutischem Arbeiten.
Gelingt dies nicht, stößt eine Tagesklinik an ihre Grenzen. „Dann versuchen wir im Gespräch, Einvernehmen beispielsweise über eine Behandlung im Krankenhaus herzustellen“, sagt Mühl. Sollte sich ein Patient jedoch offenkundig sich oder andere gefährden und keine Einsicht zeigen, könnte eine Zwangseinweisung folgen. Doch darüber entscheidet ein Richter.
Teamarbeit auf Augenhöhe
Von so etwas ist an diesem sonnigen Herbstnachmittag in den lichtdurchfluteten Räumen jedoch nichts zu spüren. Aus dem vierten Stock, dicht neben Mühls Büro, erklingen Gitarrenklänge. Der Therapieplan weist zur Stunde „Individuelle Therapievereinbarungen“ aus; die Zeit in den Werkstätten für Holz-, Näh- oder Papierarbeiten, in der Buchbinderei oder bei den Kollegen fürs Kompetenztraining ist bereits vorbei.
Auch das gemeinsame Mittagessen ist längst beendet. „Wir arbeiten auch mit Kunst- und Musiktherapie“, klärt Mühl auf. Und: „Hier arbeiten alle Berufsgruppen auf Augenhöhe als enges Team zusammen.“ Jeder hilft jedem und unterstützt auch über Stationsgrenzen hinweg im Haus, ergänzt Mühl, „wenn wir nicht gerade unterwegs sind.“
Womit eine weitere Voraussetzung für eine Behandlung in der Tagesklinik klar wird: „Wir nehmen nur Patienten auf“, sagt Mühl, „die ihr 18. Lebensjahr vollendet haben und die körperlich fit genug sind, mit uns Ausflüge zu unternehmen, schwimmen zu gehen oder Sport zu treiben in der Uni-Sporthalle.“ Die Wendeltreppe ist dafür übrigens ein wunderbares Training.
HCN/su